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Fragenübersicht Bundesverfassungsgericht urteilt: EZB-Anleihenkäufe sind teilweise verfassungswidrig, weil Verhältnismäßigkeit nicht hinreichend geprüft wurde. Wie bewertest du das Urteil?
1 - 7 / 7 Meinungen
05.05.2020 11:27 Uhr
Falls sich jemand für die rechtliche Konstruktion interessiert, kopiere ich mal den Kurzvermerk für Nichtjuristen ein, den ich dazu heute morgen sowieso geschrieben habe:

Zitat:
- BVerfG hält Anleihenkäufe der EZB für verfassungswidrig, weil sie den Grundsätzen der ultra-vires-Kontrolle nicht standhalten würden. Zum Hintergrund: BVerfG geht in seiner Rspr. davon aus, dass er EU-Rechtsakte grundsätzlich nicht vollständig prüft, weil das die Erfüllung der EU-Verträge und des Integrationsziels vereiteln würde. EuGH sei grundsätzlich Hüterin der Verträge. "Hintertür" ist aber die ultra-vires-Kontrolle: Wenn ein EU-Rechtsakt offensichtlich über die Verträge hinausgeht (Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung: EU darf nur das machen, was in den Verträgen steht), kann das BVerfG selbst prüfen und einen Verstoß gegen das Grundgesetz feststellen. Das BVerfG hat dies hier bejaht, was relativ bahnbrechend ist.

- BVerfG begründet das Vorliegen eines ultra-vires-Akts, weil der EuGH nicht hinreichend geprüft habe, ob die Anleihenkäufe den europäischen Verträge entsprechen. EuGH hat sich in seiner Rspr. auf eine summarische Prüfung zurückgezogen, es hat sich selbst darauf beschränkt zu prüfen, ob die Anleihenkäufe offensichtlich vertragswidrig seien. Das ist grob gesagt ein Trick von Verfassungsgerichten, einen politischen Sachverhalt nicht beurteilen zu müssen, das BVerfG macht sowas gelegentlich auch unter dem Stichwort "Einschätzungsprärogative", weil man davon ausgeht, dass ein Gericht manche Frage nicht zweifelsfrei klären kann, v.a. im politiknahen Bereich. BVerfG meint aber, hier käme der EuGH seiner Aufgabe, das EU-Recht zu wahren, nicht mehr nach.

- Der EuGH hatte bei seiner Prüfung insbesondere darauf verzichtet, tatsächliche Aspekte des Anleihenkaufs zu prüfen, d.h. es hat sich wesentlich juristisch geäußert, aber die faktischen Folgen der Käufe nicht berücksichtigt. Damit könne der EuGH keine sinnvolle Verhältnismäßigkeitsprüfung vornehmen und ohne eine solche Prüfung sei es nicht möglich, auf EU-Ebene zu klären, ob die EZB gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (EU darf nur tun, was in den Verträgen steht) verstoßen hat.

- Das PSPP sei ein Programm mit so heftigen wirtschaftspolitischen Auswirkungen, dass alle währungspolitischen Ziele und wirtschaftspolitische Auswirkungen genau hätten benannt werden und gegeneinander abgewogen werden müssen. Dahingegen habe der EuGH nur festgestellt, dass die Inflationsziele der EU nicht erreicht wurden und pauschal festgestellt, dass es weniger einschneidende Mittel als den Anleihenkauf zur Zielerreichung nicht gegeben habe. Hier hätten aber alle faktischen Folgen benannt und abgewogen werden müssen, da es erhebliche Auswirkungen auf alle Wirtschaftsteilnehmer gebe und u.a. durch das Zinsniveau an sich lebensunfähige Unternehmen am Leben gehalten werden könnten (als ein Beispiel von vielen)

- BVerfG sieht jedoch keinen offensichtlichen Verstoß gegen Art. 123 AEUV zu Garantien und richtet sich hier nach den Urteilen des EuGH. Es gebe kein Verstoß gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung, weil bei den Anleihenkäufen das Volumen vorzeitig begrenzt wird, Käufe nur aggregiert bekanntgegeben werden und eine Obergrenze von 33% je Wertpapierkennnummer einzuhalten ist. Das BVerfG sagt damit also, dass durch die fehlende Kontrolle des EuGH ein Rechtsakt vorliegt, der über die Verträge hinausgeht, sieht aber keinen offensichtlichen Verstoß gegen Art. 123 AEUV. Die Verfassungswidrigkeit der Anleihenkäufe bezieht sich vorerst nur darauf, dass niemand hinreichend geprüft habe, ob der Kauf verhältnismäßig war.

- Wenn der EuGH dies nicht geprüft hat und auch sonst keine Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgte, ist es aus Sicht der BVerfG unter dem Stichwort der "Integrationsverantwortung" die Pflicht von Bundesregierung und Bundestag, zu prüfen, ob die Käufe verhältnismäßig sind. Das Parlament müsse sich also mit dem Thema selbst befassen und Beschluss dazu fassen. Integrationsverantwortung bedeutet, dass die Verfassungsorgane - hier Bundestag - bei offensichtlichen Kompetenzüberschreitungen der EU eingreifen müssen. So eine offensichtliche Kompetenzüberschreitung liege hier gerade vor, weil auf EU-Ebene niemand die Verhältnismäßigkeit der Anleihenkäufe überprüft habe.

- Kurzes Fazit: Das Urteil bezieht sich nicht unmittelbar auf die inhaltliche Zulässigkeit der Anleihenkäufe selbst, sondern vor allem darauf, dass niemand "richtig" geprüft habe, ob sie überhaupt mit EU-Recht vereinbar sind. Ich erkenne in dem Urteil eine ganz vorsichtige Tendenz, die Anleihenkäufe an sich für zulässig zu halten, wenn die Folgen vernünftig abgewogen werden. Welche Grundsatzauswirkungen das Urteil hat, dürfte noch nicht ganz klar sein. Ich kann dem Urteil v.a. noch nicht die Feststellung entnehmen, dass der Bundestag sich zukünftig immer mit Anleihenkäufen befassen müsste. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung kann an sich auch immer beim EuGH erfolgen, er muss dies dann tun. Der Vorwurf eines ultra-vires-Rechtsaktes ist an sich jedoch ziemlich schwerwiegend, das BVerfG geht hier 1.) deutlich auf Konfrontationskurs zum EuGH, den er Ende letzten Jahres in zwei Entscheidungen zum Recht auf Vergessen eingeschlagen hat und 2.) gibt seine Zurückhaltung bei ultra-vires-Rechtsakten auf, dies war bisher vereinfacht gesagt eine Art "verfassungsgerichtliche Androhung".
05.05.2020 11:31 Uhr
In der öffentlichen Rezeption wird es jetzt den Spin geben, dass die Anleihenkäufe an sich verfassungswidrig waren und nicht mehr stattfinden dürfen. Das ist aus meiner Sicht nicht die Aussage des Urteils.

Gleichwohl kann man beobachten - und das ist mE auch eher die Aussage des Urteils-, dass das BVerfG auf Konfrontationskurs mit dem EuGH geht. Die Unterstellung von ultra-vires-Akten war bisher eher eine Drohung und wurde nie wahr gemacht. Dieser Kurs hat sich bei den Entscheidungen "Recht auf Vergessen I & II" Ende letzten Jahres angedeutet.

Für die Europäische Union wird das eine ziemlich schwierige Situation.
05.05.2020 11:32 Uhr
Übrigens: Das Urteil bezieht sich nur auf PSPP, nicht auf das aktuelle PEPP. Das zeigt schon, dass es keine generelle Absage an Anleihekäufe ist.
05.05.2020 11:33 Uhr
Ich hatte mich gefragt, wieso das BVerfG zuständig ist, über die EZB zu urteilen, da die EZB auf Basis der EU-Verträge agiert oder zumindest agieren sollte.

Diese Frage ist mit dem ersten Abschnitt im ersten Posting beantwortet.

Spannend ist dann noch die Frage, was die Folgen aus diesem Urteil sind. Heißt das, dass die EZB gegen die EU-Verträge agiert? Oder widersprechen die EU-Verträge dem Grundgesetz?
05.05.2020 11:36 Uhr
Zitat:
Spannend ist dann noch die Frage, was die Folgen aus diesem Urteil sind. Heißt das, dass die EZB gegen die EU-Verträge agiert? Oder widersprechen die EU-Verträge dem Grundgesetz?


Nach den Teilen, die ich bisher gelesen habe, wirft das BVerfG vor allem dem EuGH vor, die Anleihenkäufe nicht richtig geprüft zu haben. Es äußert sich zu den Käufen selbst ja kaum bis gar nicht. Dass der EuGH nicht geprüft habe, ob die Käufe auch faktisch verhältnismäßig sind, ist das, was gegen die EU-Verträge verstoßen soll. Und weil das so offensichtlich ist, hätte der Bundestag eingeschaltet werden müssen. Und weil das nicht getan wurde, ergibt sich daraus eine Verletzung der Abgeordnetenrechte.

Das ist, in etwa, die Argumentekette.
05.05.2020 11:52 Uhr
Zitat:
Dass der EuGH nicht geprüft habe, ob die Käufe auch faktisch verhältnismäßig sind, ist das, was gegen die EU-Verträge verstoßen soll.


Wäre es aber nicht Aufgabe der EZB oder der Kommission, diese Verhältnismäßigkeit zu bewerten?
Der EuGH befast sich doch nicht aus eigenem Antrieb mit solchen Fragestellungen. Und wenn der EuGH sich auf Antrag damit befasst, ist es m.E. nicht derjenige, der den Bundestag einschaltet.

Hm, schwierig, als Nicht-Jurist über ein solches Thema zu schreiben. Mein Bauchgefühl sagt mit, dass dieses Urteil mehr Fragen aufwirft als beantwortet und dass es weitreichende Folgen haben wird, was die Arbeitsweise der EU und der EU-Institutionen angeht.
05.05.2020 11:55 Uhr
Zitat:
Zitat:
Dass der EuGH nicht geprüft habe, ob die Käufe auch faktisch verhältnismäßig sind, ist das, was gegen die EU-Verträge verstoßen soll.


Wäre es aber nicht Aufgabe der EZB oder der Kommission, diese Verhältnismäßigkeit zu bewerten?
Der EuGH befast sich doch nicht aus eigenem Antrieb mit solchen Fragestellungen. Und wenn der EuGH sich auf Antrag damit befasst, ist es m.E. nicht derjenige, der den Bundestag einschaltet.

Hm, schwierig, als Nicht-Jurist über ein solches Thema zu schreiben. Mein Bauchgefühl sagt mit, dass dieses Urteil mehr Fragen aufwirft als beantwortet und dass es weitreichende Folgen haben wird, was die Arbeitsweise der EU und der EU-Institutionen angeht.


Die EZB bewertet die Verhältnismäßigkeit ihres Handelns ja quasi durch ihre eigene Begründung selbst. Sie sagte damals, weniger einschneidende Mittel um die Preisstabilität zu wahren, gebe es nicht. Das Problem entsteht dann, wenn Kontrollinstanzen ausfallen.

Ansonsten stimme ich dir zu, das Urteil wird erhebliche Folgen aber kaum einen Nutzen haben.
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